Die A39 soll nach Ansicht von Anton Hofreiter, Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion, keinesfalls ausgebaut werden. Der Ex-Vorsitzende des Bundestags-Verkehrsausschusses hält den Lückenschluss zwischen Wolfsburg und Lüneburg schlicht für zu teuer und zu ineffizient. Das sagte Hofreiter Ende Mai nach einem Besuch bei VW in Wolfsburg im Interview mit der Braunschweiger Zeitung.
Vertreter aus Wirtschaft und Politik aus unserer Region, aber auch Niedersachsens Verkehrsminister Olaf Lies (SPD), fordern den 1,1 Milliarden Euro teuren Lückenschluss der A 39. „Die Priorität liegt darin, die bestehende Infrastruktur zu sanieren", sagte dagegen Hofreiter. Wenn noch Geld aus dem bis 2015 laufenden Bundesverkehrswegeplan übrig sei, gelte es, die effizientesten Verkehrsprojekte umzusetzen. Dazu zähle die A 39 definitiv nicht.
Doch auch über 2015 hinaus setzt Hofreiter nicht auf die A 39. „Pro Euro bekomme ich beim Neubau einer Autobahn die geringste Leistungserhöhung", erklärte Hofreiter. Und jeder Meter Autobahn, der neu gebaut werde, müsse auch unterhalten werden. Die Grünen setzen auf den verstärkten Einsatz von elektronischen Verkehrsleitsystemen wie auf der A 2. Diese koordinieren den Autobahn-Verkehr flexibel und sollen somit für mehr Kapazität sorgen.
Bei einem weiteren auf Eis liegenden Verkehrsprojekt in der Region, dem zweigleisigen Ausbau der Bahnstrecke Weddeler Schleife, macht Hofreiter die Deutsche Bahn verantwortlich. Die 120 Millionen Euro für die Strecke zwischen Braunschweig und Wolfsburg seien nicht finanzierbar, weil die Bahn international expandiere, statt sich um das Schienennetz in Deutschland zu kümmern.
Viel Lob äußerten Hofreiter und Brigitte Pothmer, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, für VW. Der Konzern sei besonders umweltbewusst und vereine Mitbestimmung und wirtschaftlichen Erfolg.
„Die Bahn vernachlässigt den Verkehr auf der Schiene"
Die Grünen loben einen Automobilkonzern. Das hätte es vor 20 Jahren wohl nicht gegeben. Nun besuchten Anton Hofreiter, der Fraktions-Vorsitzende der Grünen im Bundestag, und die Hildesheimer Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer am Mittwoch das VW-Stammwerk in Wolfsburg und waren beeindruckt. Sie informierten sich über die Konzernforschung. Hofreiter kritisiert die Deutsche Bahn hingegen massiv. Die Bahn trage die Schuld dafür, dass die Weddeler Schleife nicht zweigleisig ausgebaut werde. Andre Dolle traf sich zum Gespräch mit Hofreiter und Pothmer.
Sie waren bei Volkswagen zu Besuch. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Anton Hofreiter: Wir sind schon lange im Dialog mit VW. Ich habe erfahren, dass VW ein Arbeitgeber ist, der seine Mitarbeiter stark mitbestimmen lässt. Dem Konzern ist zudem bewusst, welche große Bedeutung technische Innovationen haben, um sich in der Spitze halten zu können. Auch über die Bedeutung ökologischer Fahrzeuge – unter anderem das Null-Emissionsauto – haben wir geredet. Dabei ist klar geworden, dass VW vor bestimmten Umweltschutzvorschriften gar nicht geschützt werden muss, weil der Konzern diese längst erfüllt. Es scheint, als sei das Unternehmen deutlich weiter als die Mehrheitspolitik bei uns im Land.
Sie scheinen ja begeistert zu sein. Lässt sich etwas von VW lernen?
Hofreiter: VW zeigt, dass ein Industrieunternehmen sehr forschungsstark sein muss, um auf dem internationalen Markt zu bestehen. Auf Lorbeeren sollte man sich nicht ausruhen.
Brigitte Pothmer: VW hat sich noch einmal vorgenommen, 25 Prozent seiner Umweltbelastungen bis 2018 zu reduzieren. Der Konzern hat sehr früh verstanden, dass Konsolidierung nicht nur über Personaleinsparung erbracht werden muss, sondern dass beim Energie- und Ressourcenverbrauch große Einsparpotenziale liegen. Das ist gut für die Beschäftigten und gut für die Umwelt. VW zeigt außerdem, dass Mitbestimmung und wirtschaftlicher Erfolg sich nicht ausschließen, ganz im Gegenteil.
Warum setzen sich die Grünen nicht tatkräftiger dafür ein, den Güterverkehr wieder auf die Schiene zu bringen?
Hofreiter: Die Grünen setzen sich sehr stark dafür ein, den Güterverkehr zu verlagern – nicht nur auf die Schiene, auch auf Wasserwege. Wir müssen das knappe Geld da in der Infrastruktur einsetzen, wo es wirklich Effekte gibt. Das ist oftmals gar nicht so schwer: Es handelt sich um eine Gegenkurve hier, dort um ein drittes oder viertes Gleis. Außerdem wollen wir die LKW-Maut ausweiten. Die Schäden auf den Straßen werden zu über 90 Prozent von den LKW verursacht.
Herr Hofreiter, Sie wollen seit Ihrer Zeit als Vorsitzender des Verkehrsausschusses den Ausbau der A39 verhindern. Warum?
Hofreiter: Mit den Kosten in Höhe von 1,1 Milliarden Euro ist das ein extrem teures Projekt. Im jetzt laufenden Bundesverkehrswegeplan bis 2015 sind noch Projekte für 70 Milliarden Euro enthalten. Wir haben für Neubau-Projekte aber nur noch drei bis vier Milliarden zur Verfügung. Unsere Forderung ist, erst einmal das bestehende Straßennetz zu sanieren. Wenn eine Familie ein Haus hat, bei dem es durch das Dach regnet, wird sie doch erst einmal das Dach reparieren, bevor sie sich einen Wintergarten zulegt. Die Priorität liegt darin, das Infrastrukturnetz zu sanieren. Wenn noch Geld übrig ist, machen wir nach und nach die effizientesten Maßnahmen.
Zählt die A39 dazu?
Hofreiter: Nein. Das effizienteste ist, bei bestehenden Autobahnen mit Hilfe von elektronischen Verkehrsleit-Systemen, also der Telematik, die Kapazität zu erhöhen. Die Frage ist nicht, wie viel Beton ich verbaue, sondern wie ich die Kapazität erhöhe. Wenn die Telematik nicht ausreicht, muss man die Infrastruktur erweitern. Dann erst kommt der Neubau. Pro Euro bekomme ich beim Neubau einer Autobahn die geringste Leistungserhöhung.
Es handelt sich aber um den größten autobahnfreien Raum in Deutschland. Wir haben mit VW den größten Industriekonzern Europas in der Region. Den Bedarf sieht auch der niedersächsische Verkehrsminister Lies von der SPD.
Hofreiter: Solche gewichtigen Argumente finden Sie in abgewandelter Form in ganz Deutschland. Jeder Meter Autobahn, der neu gebaut wird, muss auch unterhalten werden. VW braucht eine Ertüchtigung des Mittellandkanals und des Eisenbahnnetzes.
Auf der Schiene tut sich aber auch nichts, Stichwort Weddeler Schleife. Seit Jahren fehlt ein zweites Gleis zwischen Braunschweig und Wolfsburg. Das wären nur 120 Millionen Euro Baukosten. Warum passiert da nichts?
Hofreiter: Die Verantwortung liegt bei der Deutschen Bahn. Aus dem Konzern sind große Summen abgezogen worden, um international zu expandieren. Die Bahn ist mit viel Geld der größte Busanbieter Europas geworden, der größte LKW-Spediteur. Sie verliert den Fokus auf das System Schiene.
Gäbe es das zweite Gleis der Weddeler Schleife mit einem Bundesverkehrsminister der Grünen?
Hofreiter: Auf alle Fälle.
Bei der Regiobahn kommen wir auch nicht so recht voran. Der Zweckverband Großraum Braunschweig benötigt für einen stündlichen Takt auf allen Strecken weitere zehn Millionen pro Jahr vom Land. Die rot-grüne Landesregierung bewilligt das Geld aber nicht.
Hofreiter: Das Hauptproblem ist das hohe Trassenentgelt, die hohe Schienenmaut. Die Deutsche Bahn erhebt für jeden Meter Zugfahrt Schienenmaut und für jeden Bahnhof zusätzlich Stationsgebühren. Diese Gebühren sind in den vergangenen Jahren überproportional gestiegen. Vor 10 Jahren haben sie 40 Prozent der Nahverkehrskosten ausgemacht, inzwischen sind es 60 Prozent.
Die Landesregierung hat doch einen finanziellen Spielraum.
Hofreiter: Das Problem ist, dass das Land in der Vergangenheit auf 60 Prozent der Mittel Zugriff hatte, jetzt nur noch auf 40 Prozent. Der Rest fließt zurück zur Deutschen Bahn. Das müssen Sie erst einmal ausgleichen. Das heißt, dass der Handlungsspielraum der Länder immer enger wird. Die Regionalisierungsmittel des Bundes für die Länder werden aber nur im Bereich der Inflation angehoben. Die Bahn holt sich überproportional viel Geld. Wenn die Landesregierung nicht klug reagiert hätte, hätten wir schon längst Zugabbestellungen. Der Bund hat hier komplett versagt.
Es läuft nicht so gut derzeit für die Grünen. Erst wird Ihr Steuerversäumnis publik, Herr Hofreiter, dann punktet die Große Koalition mit dem Rentenpaket, schließlich verläuft die Europawahl mit einem Verlust von rund einem Prozent eher mäßig. Was klappt nicht?
Hofreiter: Da muss ich Ihnen widersprechen. Das Europawahlergebnis lag deutlich über dem Ergebnis der Bundestagswahl. In absoluten Zahlen haben wir fast so viele Stimmen erzielt wie bei der Europawahl 2009. Wir haben in kurzer Zeit die Scharte nach der Bundestagswahl wettgemacht – und das mit einer neuen Führung. Damit sind wir sehr zufrieden.
Sie haben es jahrelang versäumt, für Ihre Berliner Wohnung Zweitwohnsteuer zu zahlen. Die aufgelaufenen Kosten in Höhe von 2475 Euro haben Sie inzwischen bezahlt. Ist das Thema für Sie damit ausgestanden, Herr Hofreiter?
Hofreiter: Ich habe vergessen, mich anzumelden. Das war ganz klar mein Fehler, für den ich mich entschuldigt habe. Schnellstmöglich habe ich nun reinen Tisch gemacht und das Geld nachgezahlt.
Man hat den Eindruck, dass die Grünen und die Linken beim Rentenpaket, welches die nachkommenden Generationen stark belastet, die Große Koalition nicht richtig zu fassen bekamen. Woran lag es?
Pothmer: Da will ich ausdrücklich widersprechen. Wir hatten selten eine Situation, in der unsere Kritik aus der Opposition medial so gut durchgedrungen ist. Wir waren die einzige Fraktion, die mit Nein gegen die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren gestimmt hat. Und zwar nicht, weil wir das den Menschen nicht gönnen, sondern aus Verantwortung zu den nachfolgenden Generationen, die das bezahlen müssen. Das Rentenpaket leistet keinen Beitrag zur Bekämpfung der Altersarmut. Diejenigen, die am dringendsten Unterstützung brauchen, profitieren nicht. Außerdem ist die Mütterrente falsch finanziert. Hier wird die Rentenkasse geplündert, bezahlt werden müsste das zusätzlich aus Steuermitteln.
Gebracht hat Ihr Widerstand nichts.
Pothmer: Es ist geradezu tragisch, dass das Rentenpaket beschlossen wurde. Eine neue Regierung wird das nicht einfach zurückdrehen können. Dieses Rentenpaket ist unverantwortlich und wird jeder nachfolgenden Regierung noch furchtbar auf die Füße fallen.
Ansonsten, Frau Pothmer, dürften Sie als arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen aber gerade wenig Ansatzpunkte zur Kritik haben. Es gibt so wenig Arbeitslose wie lange nicht mehr.
Pothmer: Das hat nichts mit der Politik der Großen Koalition zu tun. Insbesondere Langzeitarbeitslose profitieren so gut wie gar nicht vom Aufschwung. Über eine Million Menschen bleiben einfach abgehängt. Ministerin Nahles fühlt sich ausschließlich für die Beschäftigten zuständig. Das sieht man auch beim Mindestlohn: Die Sonderregelung für Langzeitarbeitslose stigmatisiert diese Menschen zusätzlich. Sie sind das Bauernopfer, das die SPD der CDU bringen musste.
Wie lassen sich Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt integrieren?
Pothmer: Erstens müssen insbesondere junge Langzeitarbeitslose qualifiziert werden. Mangelnde Qualifikation und Arbeitslosigkeit hängen eng zusammen. Zweitens brauchen wir für diejenigen, die sich nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrieren lassen, einen sozialen Arbeitsmarkt. Dafür nehmen wir das Geld, das Arbeitslosigkeit sowieso kostet, tun das in einem Topf und finanzieren damit sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Erwerbsgeminderte Menschen bringen einen Teil ihres Lohnes zu ihrem Arbeitgeber mit. Und wenn dann ihre Arbeitsleistung steigt, wird die Subvention zurückgefahren. Damit finanzieren wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit.
Laut einer Umfrage des Stern wünschen sich viele Deutsche Joschka Fischer und Jürgen Trittin bei den Grünen in Führungspositionen zurück. Machen Sie solche Umfragen nervös, Herr Hofreiter?
Hofreiter: Wir haben ein neues Führungsquartett. Man fällt aber nicht als erfahrene, langgediente Führungskraft vom Himmel. Ich kann nicht auf einen Schlag von heute auf morgen bekannt sein.
Einen gewissen Wiedererkennungseffekt haben Sie ja schon.
Hofreiter: Das will ich nicht abstreiten. Ein Generationswechsel ist manchmal notwendig. Die gleiche Debatte gab es, als Joschka Fischer 2005 aufgehört hat. Das Ende der Grünen wurde prophezeit. Wir haben den Weggang damals kompensiert – und wir werden es auch heute tun.
Es wird Ihnen aber kaum Zeit gelassen, sich als Fraktionschef einzuarbeiten. Ist das ein großer Druck?
Hofreiter: Ich wusste, was mich erwartet. Ich mache seit 1985 Politik, anfangs ehrenamtlich. Nach einem personellen Wechsel folgt immer eine äußerst arbeitsintensive Phase. Doch die Arbeit als Fraktionsvorsitzender ist äußerst spannend und ermöglicht mir viele neue Gestaltungsspielräume. Quelle: Braunschweiger Zeitung