Donnerstag, 23. April 2009

Alternativen

Äu­ße­run­gen von Nie­der­sach­sens Um­welt­mi­nis­ter San­der, durch die Au­to­bahn A 39 könn­ten in der Ost­hei­de „mög­li­che Ar­beits­plät­ze“ent­ste­hen und man wer­de da­für schon ei­ne „na­tur­ver­träg­li­che Tras­se“fin­den, sind bei den Au­to­bahn­geg­nern auf Un­ver­ständ­nis ge­sto­ßen. San­der hat­te in der Fern­seh­sen­dung „NDR-​Ak­tu­ell“zu­dem die Ein­bin­dung al­ler Be­tei­lig­ten in die­sen Ent­schei­dungs­pro­zess an­ge­kün­digt.

„Un­se­rer Re­gi­on wür­de durch die A 39 auch wirt­schaft­lich im­mens ge­scha­det,“so Ecke­hard Nie­mann als Spre­cher des Dach­ver­bands von 30 Bür­ger­in­itia­ti­ven, „die A 39 zieht Kauf­kraft ab, zer­stört wich­ti­ge wei­che Stand­ort­fak­to­ren und lenkt ab von ei­ner ge­ziel­ten Re­gio­nal­ent­wick­lung in Be­rei­chen wie Er­näh­rungs­wirt­schaft, An­wen­dungs­for­schung und sanf­ter Tou­ris­mus.“Statt ei­ner mil­li­ar­den­teu­ren „zer­stö­re­ri­schen Non­sen­s­au­to­bahn“braucht die Ost­hei­de jetzt schnell den be­darfs­ge­rech­ten Aus­bau vor­han­de­ner Ver­kehrs­we­ge.
Wenn Mi­nis­ter San­der das An­ge­bot ei­ner Ein­be­zie­hung al­ler Ar­gu­men­te wirk­lich ernst meint, dann muss jetzt end­lich auch der Aus­bau der B 4 mit Orts­um­fah­run­gen un­ter­sucht und in die Pla­nung ein­be­zo­gen wer­den. Die Bür­ger­in­itia­ti­ven sind gern be­reit, dem Um­welt­mi­nis­ter die­se Zu­kunfts­an­sät­ze bei ei­nem Ge­spräch nä­her zu er­läu­tern.
Denn ob­wohl vie­le A 39-​Be­für­wor­ter aus durch­sich­ti­gen Mo­ti­ven un­se­ren hei­mat­li­chen Stand­ort in den düs­ters­ten Far­ben schil­dern, schnei­den un­se­re Land­krei­se in et­li­chen bun­des­wei­ten Ver­glei­chen recht gut ab. Es wä­re gut, wenn die­se dif­fe­ren­zier­ten Un­ter­su­chun­gen nicht wei­ter un­ter den Tisch ge­kehrt wür­den:

In ei­ner Stu­die der Uni­ver­si­tät Köln über das Kli­ma für Exis­tenz­grün­dun­gen be­legt der Raum Lü­ne­burg-​Uel­zen den Platz neun von ins­ge­samt 97 Rän­gen, der Raum Braun­schweig-​Gif­horn im­mer­hin Platz 34 (Wirt­schafts­wo­che 12/2005).
Die Zeit­schrift Fo­cus wer­tet in ih­rem Ar­ti­kel „Wo der Mo­tor brummt“aus, wel­che Land­kreis-​Rang­fol­ge sich aus Ar­beits­lo­sen­an­teil, Ent­wick­lung des Brut­to­in­lands­pro­dukts und der Er­werbs­tä­ti­gen­zahl, Brut­to­wert­schöp­fung, ver­füg­ba­rem Ein­kom­men, In­ves­ti­tio­nen im ver­ar­bei­ten­dem Ge­wer­be und Be­völ­ke­rungs­ent­wick­lung er­gibt. Und sie­he da: Im Ran­king von ins­ge­samt 425 Krei­sen ste­hen die Land­krei­se un­se­rer Re­gi­on auf obe­ren Plät­zen, näm­lich Gif­horn auf dem 109., Uel­zen auf dem 126. und Lü­ne­burg auf dem 179. Platz.

Au­to­bah­nen spie­len für die Stand­ort­qua­li­tät ganz of­fen­sicht­lich kei­ne zen­tra­le Rol­le, sonst lä­ge auch das au­to­bahn­fer­ne Sta­de nicht auf Platz 24 und die au­to­bahn­na­hen Or­te Nort­heim und Göt­tin­gen nicht auf den Plät­zen 322 und 346! Dies ist ei­ne deut­li­che Be­stä­ti­gung zahl­rei­cher wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en, die klar be­le­gen, dass Au­to­bah­nen kei­ne Ar­beits­plät­ze brin­gen, son­dern die­se so­gar ge­fähr­den.

Auch in der viel­be­ach­te­ten Zu­kunfts­fä­hig­keits-​Stu­die des Ber­lin-​In­sti­tuts (BBR) be­le­gen un­se­re Land­krei­se über­durch­schnitt­li­che Plät­ze (GEO 05/2004). Be­den­kens­wert, auf wel­chen Fel­dern z.B. der Kreis Uel­zen wie ab­schnei­det: Re­la­tiv gu­te Wer­te gab's bei der Fa­mi­li­en­freund­lich­keit (Frei­flä­chen, Er­ho­lung, Frem­den­ver­kehr), dem all­ge­mei­nen Schul­sys­tem, bei der Kauf­kraft und bei der Be­völ­ke­rungs­pro­gno­se. Re­la­tiv schlech­te Wer­te be­kam der Kreis Uel­zen bei der För­de­rung der Ju­gend, der Aus­län­der­in­te­gra­ti­on, der Be­rufs­aus­bil­dung, der Hoch­qua­li­fi­zie­rung und der Kin­der­gär­ten. Die schlech­ten Uel­ze­ner Wer­te im Be­reich Er­werbs­tä­ti­gen­an­teil er­klä­ren sich u.a. da­durch, dass hier nur so­zi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig Be­schäf­tig­te und nicht Selbst­stän­di­ge (Land­wir­te) mit­ge­zählt wur­den. Der ne­ga­tiv be­wer­te­te An­teil von „Hoch­be­tag­ten“soll­te eher po­si­tiv zu Bu­che schla­gen, - auch weil Kur­or­te wie Bad Be­ven­sen ge­ra­de von den viel­fäl­ti­gen Dienst­leis­tun­gen für die­se al­ten Men­schen le­ben.

Wenn an­de­rer­seits der Kreis Uel­zen im Zu­kunfts­at­las des Pro­gnos-​In­sti­tuts auf Platz 320 von ins­ge­samt 439 Krei­sen ein­ge­reiht wird und ihm ge­wis­se „Zu­kunfts­ri­si­ken“be­schei­nigt wer­den, dann ist das An­lass für ei­ne Stand­ort­be­stim­mung. Rich­tig die Hin­wei­se in der lo­ka­len Pres­se auf die Bün­de­lung und den ge­ziel­ten Aus­bau von Ver­wal­tungs-​Ser­vice, von Er­näh­rungs­in­dus­trie (Kar­tof­fel­ver­ed­lung), Ge­sund­heits­bran­che, von Tou­ris­mus und pfif­fi­gen Kul­tur­an­ge­bo­ten.
Ir­re­füh­rend da­ge­gen der Ver­gleich un­se­rer re­la­tiv gut er­schlos­se­nen Re­gi­on mit „Hin­ter­tupfing“durch den da­ma­li­gen Uel­ze­ner CDU-​Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Ree­se. Un­ter den be­trach­te­ten In­di­ka­to­ren der Pro­gnos-​Stu­die ist die ver­kehr­li­che Er­reich­bar­keit oh­ne­hin nur ei­ner von ins­ge­samt 29 Punk­ten.
Ei­ne Au­to­bahn nützt of­fen­bar we­nig: Auf der Land­kar­te des Zu­kunfts­at­las' fin­det man ent­lang der Au­to­bah­nen star­ke und schwa­che Krei­se – bei­na­he gleich­ran­gig mit Uel­zen et­wa „Au­to­bahn­krei­se“wie Ost­hol­stein, Lü­beck, Neu­müns­ter, Kas­sel, Del­men­horst oder Nort­heim – ganz zu schwei­gen von vie­len Krei­sen in den neu­en Bun­des­län­dern. Gif­horn da­ge­gen (oh­ne A 39) ran­giert mit „ho­hen Zu­kunfts­chan­cen“weit vorn auf Platz 30.
Es muss al­so an an­de­ren Fak­to­ren lie­gen, wenn ei­ne Re­gi­on zu­kunfts­fä­hig ist: Hier nennt die Pro­gnos-​Stu­die u.a. In­ten­si­tät von Un­ter­neh­mens-​Grün­dun­gen, Be­schäf­ti­gungs­dy­na­mik in Zu­kunfts­bran­chen und im Dienst­leis­tungs­be­reich, For­schung und Ent­wick­lung, Pa­tent-​In­ten­si­tät, Kauf­kraft, Kri­mi­na­li­täts­ra­te, sta­bi­le so­zia­le Be­din­gun­gen, Ge­stal­tungs­quo­te kom­mu­na­ler Haus­hal­te, An­teil der Ar­beits­plät­ze an der Zahl der Ein­woh­ner.

Der Kreis Uel­zen ist in die­sem Zu­sam­men­hang so­gar deut­lich un­ter­be­wer­tet durch den an­ge­leg­ten Maß­stab „An­teil der 18- bis 30-​Jäh­ri­gen an der Ge­samt­be­völ­ke­rung". Man ver­kennt, dass der Land­kreis ge­ra­de auch at­trak­tiv sein will für äl­te­re Men­schen mit zum Teil ho­her Kauf­kraft, die ih­ren Wohn­sitz be­wusst nach Bad Be­ven­sen ver­le­gen. Auch dies ei­ne Zu­kunfts­bran­che, die man nicht durch die A 39 ge­fähr­den darf!

Die Re­gi­on könn­te hin­sicht­lich der At­trak­ti­vi­tät für jun­ge Er­wach­se­ne und Kin­der noch viel tun. Lei­der nicht auf­ge­führt und be­wer­tet sind in der Pro­gnos-​Stu­die die „wei­chen Stand­ort­fak­to­ren“für In­no­va­tio­nen und In­ves­ti­tio­nen, z.B. ei­ne le­bens­wer­te Um­welt, Ide­en­schmie­den mit pfif­fi­gen Ver­net­zun­gen oder ei­ne le­ben­di­ge Kul­tur­sze­ne. Pa­cken wir das al­les ge­zielt an – auch ei­nen schnel­len und be­darfs­ge­rech­ten Aus­bau vor­han­de­ner Ver­kehrs­we­ge – aber ma­chen wir Schluss mit dem au­to­bahn­dien­li­chen Schlecht­re­den un­se­rer pa­ten­ten und po­ten­ten Re­gi­on!
Auch ei­ne star­ke und mo­der­ne Agrar-​ und Er­näh­rungs­wirt­schaft ist ei­ne der ganz we­sent­li­chen wirt­schaft­li­chen Stär­ken un­se­rer Re­gi­on. Mit der ge­ziel­ten An­sied­lung wei­te­rer ver­wand­ter Fir­men kann die­ser „Clus­ter“(Kern) si­cher noch wei­ter im Sin­ne ei­ner ver­netz­ten „Wert­schöp­fungs­ket­te“aus­ge­baut wer­den. Hier­zu ge­hört vor al­lem auch die Schaf­fung von wei­te­ren In­fra­struk­tur-​Ein­rich­tun­gen, wie z.B. von For­schungs-​ und Aus­bil­dungs-​Ein­rich­tun­gen, von Think-​Tanks, In­no­va­tions-​ und Denk­schmie­den. Ein ers­ter An­satz da­zu kann z.B. das „Kar­tof­fel­netz“wer­den.

Gu­te Be­din­gun­gen al­so für un­se­re Hei­de-​Re­gi­on. Im Kon­trast da­zu ste­hen vie­le Aus­sa­gen der hei­mi­schen In­dus­trie-​ und Han­dels­kam­mer, die of­fen­sicht­lich mit ei­nem Schlecht­re­den un­se­rer an­geb­lich „rück­stän­di­gen Re­gi­on“den Neu­bau der A 39 her­bei­re­den möch­te. Sie ver­schweigt da­bei un­se­re wirk­li­chen Stär­ken und ver­gisst, dass die A 39 al­len­falls erst in 10 bis 15 Jah­ren da wä­re. Bis da­hin wür­de ei­ne De­bat­te um un­se­re wirk­li­chen Ent­wick­lungs-​Chan­cen ge­lähmt und auf ein völ­lig fal­sches Gleis ge­scho­ben!

Dass die­se „Non­sens-​Au­to­bahn“A 39 vie­le wei­che Stand­ort­fak­to­ren zer­stö­ren wür­de, ist of­fen­sicht­lich. Dass sie wirk­lich über­flüs­sig ist, be­wei­sen nicht nur die vom Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um fi­nan­zier­ten Stu­di­en „Ver­kehrs­un­ter­su­chun­gen Nord-​Ost“(VU­NO). Das Bon­ner Be­ra­tungs­un­ter­neh­men AFC Con­sul­tans In­ter­na­tio­nal hat jetzt 200 Ge­schäfts­füh­rer und In­ha­ber der wich­tigs­ten Un­ter­neh­men der deut­schen Er­näh­rungs­in­dus­trie zu de­ren In­ves­ti­ti­ons­plä­nen be­fragt.
Da­bei zeig­te sich, dass die „ver­kehrs­mä­ßi­ge An­bin­dung“ein ab­so­lut nach­ran­gi­ger Stand­ort­fak­tor war. Ei­gent­lich kein Wun­der bei der be­reits re­la­tiv gu­ten Er­schlie­ßung un­se­rer und auch der meis­ten an­de­ren Re­gio­nen. Die Un­ter­neh­men, die ei­ne Ver­la­ge­rung ih­res Be­triebs oder von Tei­len da­von be­ab­sich­ti­gen (das sind je nach Gr&Öuml;ße 3 bis 18 %), ga­ben als Grün­de an: Er­schlie­ßung neu­er Ab­satz­märk­te im Rah­men der EU-​Ost­erwei­te­rung, Schaf­fen ei­ner flä­chen­de­cken­den Prä­senz, De­zen­tra­li­sie­rung zur Be­rück­sich­ti­gung re­gio­na­ler Be­dürf­nis­se, nied­ri­ge Lohn­kos­ten, Ver­füg­bar­keit güns­ti­ger Flä­chen, nied­ri­ge Steu­er­sät­ze, qua­li­fi­zier­te Ar­beits­kräf­te, bes­se­re Roh­stoff­ba­sis und ho­he För­der­mit­tel. Die „ver­kehrs­mä­ßi­ge An­bin­dung“wur­de z.B. in der Fleisch-​ und in der Milch­bran­che nur zu 3 % ge­nannt (DLG-​Mit­tei­lun­gen 05/2004).
Wenn vie­le un­se­rer Un­ter­neh­men trotz­dem ei­ne A 39 be­für­wor­ten, liegt das si­cher dar­an, dass man ein steu­er­fi­nan­zier­tes Gra­tis­ge­schenk nicht un­be­dingt ab­lehnt. Es liegt si­cher auch an dem Druck der IHK-​Pro­pa­gan­da. Bei Be­fra­gun­gen ha­ben trotz­dem et­li­che gro­ße und vie­le klei­ne­re Un­ter­neh­men deut­lich ge­sagt, dass sie die A 39 nicht bräuch­ten.

Denn: Nicht pau­scha­le For­de­run­gen nach ei­ner Au­to­bahn lö­sen un­se­re (Teil-​)Pro­ble­me, son­dern ein ge­nau­es Hin­se­hen und Han­deln in den Be­rei­chen Re­gio­nal-​ und Wirt­schafts­ent­wick­lung, Tou­ris­mus, Bil­dung und For­schung, ge­zielt z.B. auf den Aus­bau von Wert­schöp­fungs-​Ket­ten zwi­schen Agrar­sek­tor und Er­näh­rungs­in­dus­trie bzw. der Nut­zung nach­wach­sen­der Roh­stof­fe. Ei­ne sol­che sach­be­zo­ge­ne Ana­ly­se und unideo­lo­gi­sche De­bat­te um die Zu­kunft un­se­rer Re­gi­on brau­chen wir, nicht aber hilf­los-​ag­gres­si­ve Au­to­bahn­gläu­big­keit!

Montag, 9. März 2009

Die Autobahn-Story

Es ist laut bei uns. Kein Wun­der, liegt die A 21 doch nur et­wa zwan­zig Me­ter von un­se­rem Wohn­zim­mer ent­fernt. Die Au­to­bahn geht so dicht an un­se­rem Haus vor­bei, dass in der Bau­ge­neh­mi­gung un­se­res Win­ter­gar­tens, den wir vor ei­ni­gen Jah­ren er­stell­ten, fol­gen­der schö­ne Satz zu le­sen war: „Das Bau­vor­ha­ben ist so aus­zu­bil­den, dass ei­ne Blen­dung der Ver­kehrs­teil­neh­mer auf der Bun­des­au­to­bahn nicht er­folgt. Wei­ter­hin ist das Bau­vor­ha­ben so zu ge­stal­ten, dass es durch sei­ne Form, Far­be und Grö­ße nicht zu Ver­wechs­lun­gen mit Ver­kehrs­zei­chen und -​ein­rich­tun­gen An­lass gibt.“

Das Le­ben an der Au­to­bahn hat aber auch et­was Gu­tes. Es bil­det die Stim­me. Wenn wir im Som­mer mit Freun­den auf der Ter­ras­se sit­zen, dann müs­sen wir uns an­schrei­en, wenn wir ein­an­der ver­ste­hen wol­len. Das schult die Lun­gen und spült Luft und Koh­len­mon­oxid bis in die letz­ten klei­nen Bläs­chen. Das ist ge­sund. Und wir ler­nen, laut­stark zu brül­len. Schon heu­te ver­zich­ten wir bei Orts­ge­sprä­chen auf das Te­le­fon.
Au­ßer­dem le­ben wir im Ein­klang mit der Na­tur. Der Wech­sel der Jah­res­zei­ten be­stimmt den Rhyth­mus un­se­res Le­bens. Wir sind die ers­ten, die wis­sen, dass der Früh­ling da ist. Denn dann er­wa­chen die Mo­tor­rad­fah­rer aus dem Win­ter­schlaf und be­schleu­ni­gen oder mo­tor­brem­sen mit ei­nem Höl­len­lärm, je nach­dem, aus wel­cher Rich­tung sie kom­men; denn zwei­hun­dert Me­ter hin­ter un­se­rem Hof en­det die Au­to­bahn. Oder sie be­ginnt, je nach Sicht­wei­se und Blick­rich­tung; denn je­dem En­de wohnt auch ein An­fang in­ne. Je­den­falls ist das bei Au­to­bah­nen so.

Un­se­re Kin­der ent­wi­ckel­ten mit Hil­fe der Au­to­bahn ganz schnell ein ganz na­tür­li­ches Ver­hält­nis zum Tod. Zu­erst war es im­mer ein gro­ßer Schock, wenn ei­ne klei­ne Kat­ze plötz­lich ver­schwun­den war. Stun­den-​ und ta­ge­lang wur­de ge­sucht, bis eins der Kin­der die breit­ge­fah­re­ne Mie­ze von un­se­rer Au­to­bahn­brü­cke aus ent­deck­te, von Tau­sen­den von Au­tos auf die Fahr­bahn ge­bepscht. Ver­schwin­det mal wie­der ein Tier, dann heißt es bei uns nicht: Zot­tel ist jetzt im Meer­schwein­chen­him­mel. Oder: Zot­tel weilt in den ewi­gen Jagd­grün­den. Nein, bei uns heißt es: Zot­tel fährt jetzt auf dem un­end­lich lan­gen, un­end­lich brei­ten High­way. Nun wird in­zwi­schen auch schon nicht mehr lan­ge ge­sucht. Wir wis­sen ja, wo un­se­re klei­nen pel­zi­gen Lieb­lin­ge sind. Auf die­se Wei­se kom­me ich neu­er­dings so­gar ums Be­er­di­gen her­um.

Trotz­dem nervt die Au­to­bahn. Das fängt an da­mit, dass stän­dig die Po­li­zei an­ruft und be­haup­tet, ir­gend­je­mand ha­be sie ver­stän­digt, bei uns lie­fen Kü­he auf der Au­to­bahn. Zu­erst glaub­te ich das so­gar und rann­te raus, in gro­ßer Sor­ge. Aber es war im­mer al­les in Ord­nung. Ich ha­be nur ei­ne Er­klä­rung für die­se stän­di­gen An­ru­fe: Die Leu­te knal­len der­ma­ßen schnell die Stra­ße ent­lang, dass sie zwar un­se­re Kü­he se­hen kön­nen, die ne­ben der Fahr­bahn gra­sen, nicht aber den sta­bi­len Zaun, der zwi­schen ih­nen und der Au­to­bahn ver­läuft. Da die­se Busi­ness­fre­dis wäh­rend des Ab­wi­ckelns von Un­ter­neh­men im Au­to so­wie­so stän­dig te­le­fo­nie­ren, ru­fen die­se Arsch­gei­gen zwi­schen­durch mal eben bei der Po­li­zei an; die klin­gelt bei mir durch, und ich muss wie­der hin und gu­cken, ob mei­ne Vie­cher noch da sind.
Zwei Mal wa­ren tat­säch­lich Tie­re von mir auf der Au­to­bahn. Bei­de Ma­le ha­be ich es selbst be­merkt. Ein­mal floh ein Kalb vor mir, und auf dem Weg von un­se­rem Hof bis in die Schau­fens­ter­schei­be ei­nes Schlach­ter­la­dens kreuz­ten wir auch die Au­to­bahn, glück­li­cher­wei­se oh­ne Scha­den zu ma­chen. Und ein­mal such­te Wil­hel­mi­na, ei­ne Kuh, die auf der Hof­kop­pel ge­kalbt hat­te, ihr Kalb, wel­ches ich schon in den Käl­ber­stall ver­bracht hat­te. Sie stieg über den Zaun, rann­te um die Hof­kop­pel her­um, über die Au­to­bahn­brü­cke, an der Leit­plan­ke ent­lang. Dann rausch­te sie durch das Stra­ßen­be­gleit­grün die Bö­schung hin­un­ter und blieb am Fahr­bahn­rand ste­hen. Dort gras­te sie fried­lich, als ich sie ent­deck­te. Mit ei­nem Ei­mer Schrot und ei­nem Strick ging ich hin und fing sie ein, freund­lich den vor­bei­fah­ren­den Au­tos win­kend.
Ei­nes hielt an. Ein äl­te­res Tou­ris­te­n­ehe­paar stieg aus und fo­to­gra­fier­te mich. Ich hör­te noch, wie die Frau sag­te: „Schau mal, wie ur­sprüng­lich die Ein­ge­bo­re­nen hier noch le­ben! Ein ech­ter Kuh­hir­te! Wie idyl­lisch!“ Der­weil knips­te ihr Mann mich, steck­te mir dann fünf Eu­ro zu und sag­te: „Fo­to gut. Nix Ge­fahr! Nix See­le jetzt in Kas­ten hier! Du ge­sund! Al­les Gu­te!“ Und sie stie­gen in ihr Au­to und fuh­ren wie­der, und ich ging heim, mit Wil­hel­mi­na im Schlepp­tau.
Ins­ge­samt über­wie­gen die ne­ga­ti­ven As­pek­te der Nä­he zur Au­to­bahn. Al­so freu­te ich mich, als un­ser Freund Bau­de ei­nes Ta­ges bei uns im Gar­ten saß und sag­te: „Ist ja schei­ße, die­ser Lärm hier! Das hält ja kein Schwein aus. Die Au­to­bah­nen soll­ten doch pri­va­ti­siert wer­den. Ich kauf die­ses Teil­stück und schenk' es euch! Und dann le­gen wir es still! Ver­spro­chen: Zur Sil­ber­hoch­zeit kriegt ihr die Au­to­bahn von mir!“ Was für ein reiz­vol­ler Ge­dan­ke! Acht Ki­lo­me­ter asphal­tier­ter Fahr­si­lo di­rekt am Stall! Klas­se!

Und am Nach­mit­tag stand Bau­de auf, zog los und grün­de­te ein In­ter­net­un­ter­neh­men, um die er­for­der­li­chen Mil­lio­nen zu schef­feln. In­zwi­schen aber hat er sei­ne Fir­ma ver­kloppt und ist in die USA aus­ge­wan­dert, um sich un­se­rem Zu­griff zu ent­zie­hen. Noch hat er elf Jah­re Zeit. Dann will ich den ers­ten Schnitt auf die Au­to­bahn knal­len! Dar­auf freue ich mich heu­te schon! Und ich las­se kei­ne Ge­le­gen­heit aus, Bau­de an sein Ver­spre­chen zu er­in­nern. Bis nach Wis­con­sin bin ich ihm ge­folgt, um ihn auf­zu­spü­ren!
Wenn es einst so­weit sein soll­te: Ich glau­be, ich wer­de die Au­to­bahn ver­mis­sen, trotz al­lem. Kei­ne Au­tos mehr, die bei Schnee­glät­te in un­se­ren Gar­ten rau­schen. Kei­ne Schein­wer­fer mehr, die über den wun­der­bar wei­ßen Kör­per der Liebs­ten hu­schen, wenn wir bei­ein­an­der lie­gen. Und kei­ne Ge­le­gen­heit mehr, ein lieb­ge­won­ne­nes Ri­tu­al aus­zu­füh­ren. Noch heu­te hal­te ich auf dem Heim­weg von Fe­ten im­mer auf der Brü­cke an, um in ho­hem Bo­gen von ihr her­un­ter zu pin­keln, stets dar­auf hof­fend, ein Ca­brio mö­ge drun­ter­her­fah­ren. Noch nie ha­be ich eins ge­trof­fen. Aber ich ha­be ja noch elf Jah­re Zeit...


Wei­te­re In­for­ma­tio­nen:
Den Text „Die Au­to­bahn“ hat der schles­wig-​hol­stei­ni­sche Bau­er Mat­thi­as Stühr­woldt über das Le­ben sei­ner Fa­mi­lie an der Au­to­bahn ge­schrie­ben. Wer auf ei­ne un­glaub­lich wit­zi­ge und ein­fühl­sa­me Wei­se er­fah­ren will, wie ein Bau­er lebt, denkt und fühlt, wie Fa­mi­lie und Hof, Le­ben und Ar­bei­ten, Dorf und Re­gi­on im All­tag zu­sam­men­ge­hö­ren, dem sei­en ganz nach­drück­lich sei­ne Kurz­ge­schich­ten, Be­trach­tun­gen und Ge­dich­te emp­foh­len:

Mat­thi­as Stühr­woldt, Ver­liebt Tre­cker fah­ren, 180 Sei­ten; 9,90 Eu­ro
Mat­thi­as Stühr­woldt, Der Woll­müt­zen­mann, 182 Sei­ten; 11,90 Eu­ro
Mat­thi­as Stühr­woldt li­ve, CD; 13,90 Eu­ro

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