Es ist laut bei uns. Kein Wunder, liegt die A 21 doch nur etwa zwanzig Meter von unserem Wohnzimmer entfernt. Die Autobahn geht so dicht an unserem Haus vorbei, dass in der Baugenehmigung unseres Wintergartens, den wir vor einigen Jahren erstellten, folgender schöne Satz zu lesen war: „Das Bauvorhaben ist so auszubilden, dass eine Blendung der Verkehrsteilnehmer auf der Bundesautobahn nicht erfolgt. Weiterhin ist das Bauvorhaben so zu gestalten, dass es durch seine Form, Farbe und Größe nicht zu Verwechslungen mit Verkehrszeichen und -einrichtungen Anlass gibt.“
Das Leben an der Autobahn hat aber auch etwas Gutes. Es bildet die Stimme. Wenn wir im Sommer mit Freunden auf der Terrasse sitzen, dann müssen wir uns anschreien, wenn wir einander verstehen wollen. Das schult die Lungen und spült Luft und Kohlenmonoxid bis in die letzten kleinen Bläschen. Das ist gesund. Und wir lernen, lautstark zu brüllen. Schon heute verzichten wir bei Ortsgesprächen auf das Telefon.
Außerdem leben wir im Einklang mit der Natur. Der Wechsel der Jahreszeiten bestimmt den Rhythmus unseres Lebens. Wir sind die ersten, die wissen, dass der Frühling da ist. Denn dann erwachen die Motorradfahrer aus dem Winterschlaf und beschleunigen oder motorbremsen mit einem Höllenlärm, je nachdem, aus welcher Richtung sie kommen; denn zweihundert Meter hinter unserem Hof endet die Autobahn. Oder sie beginnt, je nach Sichtweise und Blickrichtung; denn jedem Ende wohnt auch ein Anfang inne. Jedenfalls ist das bei Autobahnen so.
Unsere Kinder entwickelten mit Hilfe der Autobahn ganz schnell ein ganz natürliches Verhältnis zum Tod. Zuerst war es immer ein großer Schock, wenn eine kleine Katze plötzlich verschwunden war. Stunden- und tagelang wurde gesucht, bis eins der Kinder die breitgefahrene Mieze von unserer Autobahnbrücke aus entdeckte, von Tausenden von Autos auf die Fahrbahn gebepscht. Verschwindet mal wieder ein Tier, dann heißt es bei uns nicht: Zottel ist jetzt im Meerschweinchenhimmel. Oder: Zottel weilt in den ewigen Jagdgründen. Nein, bei uns heißt es: Zottel fährt jetzt auf dem unendlich langen, unendlich breiten Highway. Nun wird inzwischen auch schon nicht mehr lange gesucht. Wir wissen ja, wo unsere kleinen pelzigen Lieblinge sind. Auf diese Weise komme ich neuerdings sogar ums Beerdigen herum.
Trotzdem nervt die Autobahn. Das fängt an damit, dass ständig die Polizei anruft und behauptet, irgendjemand habe sie verständigt, bei uns liefen Kühe auf der Autobahn. Zuerst glaubte ich das sogar und rannte raus, in großer Sorge. Aber es war immer alles in Ordnung. Ich habe nur eine Erklärung für diese ständigen Anrufe: Die Leute knallen dermaßen schnell die Straße entlang, dass sie zwar unsere Kühe sehen können, die neben der Fahrbahn grasen, nicht aber den stabilen Zaun, der zwischen ihnen und der Autobahn verläuft. Da diese Businessfredis während des Abwickelns von Unternehmen im Auto sowieso ständig telefonieren, rufen diese Arschgeigen zwischendurch mal eben bei der Polizei an; die klingelt bei mir durch, und ich muss wieder hin und gucken, ob meine Viecher noch da sind.
Zwei Mal waren tatsächlich Tiere von mir auf der Autobahn. Beide Male habe ich es selbst bemerkt. Einmal floh ein Kalb vor mir, und auf dem Weg von unserem Hof bis in die Schaufensterscheibe eines Schlachterladens kreuzten wir auch die Autobahn, glücklicherweise ohne Schaden zu machen. Und einmal suchte Wilhelmina, eine Kuh, die auf der Hofkoppel gekalbt hatte, ihr Kalb, welches ich schon in den Kälberstall verbracht hatte. Sie stieg über den Zaun, rannte um die Hofkoppel herum, über die Autobahnbrücke, an der Leitplanke entlang. Dann rauschte sie durch das Straßenbegleitgrün die Böschung hinunter und blieb am Fahrbahnrand stehen. Dort graste sie friedlich, als ich sie entdeckte. Mit einem Eimer Schrot und einem Strick ging ich hin und fing sie ein, freundlich den vorbeifahrenden Autos winkend.
Eines hielt an. Ein älteres Touristenehepaar stieg aus und fotografierte mich. Ich hörte noch, wie die Frau sagte: „Schau mal, wie ursprünglich die Eingeborenen hier noch leben! Ein echter Kuhhirte! Wie idyllisch!“ Derweil knipste ihr Mann mich, steckte mir dann fünf Euro zu und sagte: „Foto gut. Nix Gefahr! Nix Seele jetzt in Kasten hier! Du gesund! Alles Gute!“ Und sie stiegen in ihr Auto und fuhren wieder, und ich ging heim, mit Wilhelmina im Schlepptau.
Insgesamt überwiegen die negativen Aspekte der Nähe zur Autobahn. Also freute ich mich, als unser Freund Baude eines Tages bei uns im Garten saß und sagte: „Ist ja scheiße, dieser Lärm hier! Das hält ja kein Schwein aus. Die Autobahnen sollten doch privatisiert werden. Ich kauf dieses Teilstück und schenk' es euch! Und dann legen wir es still! Versprochen: Zur Silberhochzeit kriegt ihr die Autobahn von mir!“ Was für ein reizvoller Gedanke! Acht Kilometer asphaltierter Fahrsilo direkt am Stall! Klasse!
Und am Nachmittag stand Baude auf, zog los und gründete ein Internetunternehmen, um die erforderlichen Millionen zu scheffeln. Inzwischen aber hat er seine Firma verkloppt und ist in die USA ausgewandert, um sich unserem Zugriff zu entziehen. Noch hat er elf Jahre Zeit. Dann will ich den ersten Schnitt auf die Autobahn knallen! Darauf freue ich mich heute schon! Und ich lasse keine Gelegenheit aus, Baude an sein Versprechen zu erinnern. Bis nach Wisconsin bin ich ihm gefolgt, um ihn aufzuspüren!
Wenn es einst soweit sein sollte: Ich glaube, ich werde die Autobahn vermissen, trotz allem. Keine Autos mehr, die bei Schneeglätte in unseren Garten rauschen. Keine Scheinwerfer mehr, die über den wunderbar weißen Körper der Liebsten huschen, wenn wir beieinander liegen. Und keine Gelegenheit mehr, ein liebgewonnenes Ritual auszuführen. Noch heute halte ich auf dem Heimweg von Feten immer auf der Brücke an, um in hohem Bogen von ihr herunter zu pinkeln, stets darauf hoffend, ein Cabrio möge drunterherfahren. Noch nie habe ich eins getroffen. Aber ich habe ja noch elf Jahre Zeit...
Weitere Informationen:
Den Text „Die Autobahn“ hat der schleswig-holsteinische Bauer Matthias Stührwoldt über das Leben seiner Familie an der Autobahn geschrieben. Wer auf eine unglaublich witzige und einfühlsame Weise erfahren will, wie ein Bauer lebt, denkt und fühlt, wie Familie und Hof, Leben und Arbeiten, Dorf und Region im Alltag zusammengehören, dem seien ganz nachdrücklich seine Kurzgeschichten, Betrachtungen und Gedichte empfohlen:
Matthias Stührwoldt, Verliebt Trecker fahren, 180 Seiten; 9,90 Euro
Matthias Stührwoldt, Der Wollmützenmann, 182 Seiten; 11,90 Euro
Matthias Stührwoldt live, CD; 13,90 Euro
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