Montag, 9. März 2009

Die Autobahn-Story

Es ist laut bei uns. Kein Wun­der, liegt die A 21 doch nur et­wa zwan­zig Me­ter von un­se­rem Wohn­zim­mer ent­fernt. Die Au­to­bahn geht so dicht an un­se­rem Haus vor­bei, dass in der Bau­ge­neh­mi­gung un­se­res Win­ter­gar­tens, den wir vor ei­ni­gen Jah­ren er­stell­ten, fol­gen­der schö­ne Satz zu le­sen war: „Das Bau­vor­ha­ben ist so aus­zu­bil­den, dass ei­ne Blen­dung der Ver­kehrs­teil­neh­mer auf der Bun­des­au­to­bahn nicht er­folgt. Wei­ter­hin ist das Bau­vor­ha­ben so zu ge­stal­ten, dass es durch sei­ne Form, Far­be und Grö­ße nicht zu Ver­wechs­lun­gen mit Ver­kehrs­zei­chen und -​ein­rich­tun­gen An­lass gibt.“

Das Le­ben an der Au­to­bahn hat aber auch et­was Gu­tes. Es bil­det die Stim­me. Wenn wir im Som­mer mit Freun­den auf der Ter­ras­se sit­zen, dann müs­sen wir uns an­schrei­en, wenn wir ein­an­der ver­ste­hen wol­len. Das schult die Lun­gen und spült Luft und Koh­len­mon­oxid bis in die letz­ten klei­nen Bläs­chen. Das ist ge­sund. Und wir ler­nen, laut­stark zu brül­len. Schon heu­te ver­zich­ten wir bei Orts­ge­sprä­chen auf das Te­le­fon.
Au­ßer­dem le­ben wir im Ein­klang mit der Na­tur. Der Wech­sel der Jah­res­zei­ten be­stimmt den Rhyth­mus un­se­res Le­bens. Wir sind die ers­ten, die wis­sen, dass der Früh­ling da ist. Denn dann er­wa­chen die Mo­tor­rad­fah­rer aus dem Win­ter­schlaf und be­schleu­ni­gen oder mo­tor­brem­sen mit ei­nem Höl­len­lärm, je nach­dem, aus wel­cher Rich­tung sie kom­men; denn zwei­hun­dert Me­ter hin­ter un­se­rem Hof en­det die Au­to­bahn. Oder sie be­ginnt, je nach Sicht­wei­se und Blick­rich­tung; denn je­dem En­de wohnt auch ein An­fang in­ne. Je­den­falls ist das bei Au­to­bah­nen so.

Un­se­re Kin­der ent­wi­ckel­ten mit Hil­fe der Au­to­bahn ganz schnell ein ganz na­tür­li­ches Ver­hält­nis zum Tod. Zu­erst war es im­mer ein gro­ßer Schock, wenn ei­ne klei­ne Kat­ze plötz­lich ver­schwun­den war. Stun­den-​ und ta­ge­lang wur­de ge­sucht, bis eins der Kin­der die breit­ge­fah­re­ne Mie­ze von un­se­rer Au­to­bahn­brü­cke aus ent­deck­te, von Tau­sen­den von Au­tos auf die Fahr­bahn ge­bepscht. Ver­schwin­det mal wie­der ein Tier, dann heißt es bei uns nicht: Zot­tel ist jetzt im Meer­schwein­chen­him­mel. Oder: Zot­tel weilt in den ewi­gen Jagd­grün­den. Nein, bei uns heißt es: Zot­tel fährt jetzt auf dem un­end­lich lan­gen, un­end­lich brei­ten High­way. Nun wird in­zwi­schen auch schon nicht mehr lan­ge ge­sucht. Wir wis­sen ja, wo un­se­re klei­nen pel­zi­gen Lieb­lin­ge sind. Auf die­se Wei­se kom­me ich neu­er­dings so­gar ums Be­er­di­gen her­um.

Trotz­dem nervt die Au­to­bahn. Das fängt an da­mit, dass stän­dig die Po­li­zei an­ruft und be­haup­tet, ir­gend­je­mand ha­be sie ver­stän­digt, bei uns lie­fen Kü­he auf der Au­to­bahn. Zu­erst glaub­te ich das so­gar und rann­te raus, in gro­ßer Sor­ge. Aber es war im­mer al­les in Ord­nung. Ich ha­be nur ei­ne Er­klä­rung für die­se stän­di­gen An­ru­fe: Die Leu­te knal­len der­ma­ßen schnell die Stra­ße ent­lang, dass sie zwar un­se­re Kü­he se­hen kön­nen, die ne­ben der Fahr­bahn gra­sen, nicht aber den sta­bi­len Zaun, der zwi­schen ih­nen und der Au­to­bahn ver­läuft. Da die­se Busi­ness­fre­dis wäh­rend des Ab­wi­ckelns von Un­ter­neh­men im Au­to so­wie­so stän­dig te­le­fo­nie­ren, ru­fen die­se Arsch­gei­gen zwi­schen­durch mal eben bei der Po­li­zei an; die klin­gelt bei mir durch, und ich muss wie­der hin und gu­cken, ob mei­ne Vie­cher noch da sind.
Zwei Mal wa­ren tat­säch­lich Tie­re von mir auf der Au­to­bahn. Bei­de Ma­le ha­be ich es selbst be­merkt. Ein­mal floh ein Kalb vor mir, und auf dem Weg von un­se­rem Hof bis in die Schau­fens­ter­schei­be ei­nes Schlach­ter­la­dens kreuz­ten wir auch die Au­to­bahn, glück­li­cher­wei­se oh­ne Scha­den zu ma­chen. Und ein­mal such­te Wil­hel­mi­na, ei­ne Kuh, die auf der Hof­kop­pel ge­kalbt hat­te, ihr Kalb, wel­ches ich schon in den Käl­ber­stall ver­bracht hat­te. Sie stieg über den Zaun, rann­te um die Hof­kop­pel her­um, über die Au­to­bahn­brü­cke, an der Leit­plan­ke ent­lang. Dann rausch­te sie durch das Stra­ßen­be­gleit­grün die Bö­schung hin­un­ter und blieb am Fahr­bahn­rand ste­hen. Dort gras­te sie fried­lich, als ich sie ent­deck­te. Mit ei­nem Ei­mer Schrot und ei­nem Strick ging ich hin und fing sie ein, freund­lich den vor­bei­fah­ren­den Au­tos win­kend.
Ei­nes hielt an. Ein äl­te­res Tou­ris­te­n­ehe­paar stieg aus und fo­to­gra­fier­te mich. Ich hör­te noch, wie die Frau sag­te: „Schau mal, wie ur­sprüng­lich die Ein­ge­bo­re­nen hier noch le­ben! Ein ech­ter Kuh­hir­te! Wie idyl­lisch!“ Der­weil knips­te ihr Mann mich, steck­te mir dann fünf Eu­ro zu und sag­te: „Fo­to gut. Nix Ge­fahr! Nix See­le jetzt in Kas­ten hier! Du ge­sund! Al­les Gu­te!“ Und sie stie­gen in ihr Au­to und fuh­ren wie­der, und ich ging heim, mit Wil­hel­mi­na im Schlepp­tau.
Ins­ge­samt über­wie­gen die ne­ga­ti­ven As­pek­te der Nä­he zur Au­to­bahn. Al­so freu­te ich mich, als un­ser Freund Bau­de ei­nes Ta­ges bei uns im Gar­ten saß und sag­te: „Ist ja schei­ße, die­ser Lärm hier! Das hält ja kein Schwein aus. Die Au­to­bah­nen soll­ten doch pri­va­ti­siert wer­den. Ich kauf die­ses Teil­stück und schenk' es euch! Und dann le­gen wir es still! Ver­spro­chen: Zur Sil­ber­hoch­zeit kriegt ihr die Au­to­bahn von mir!“ Was für ein reiz­vol­ler Ge­dan­ke! Acht Ki­lo­me­ter asphal­tier­ter Fahr­si­lo di­rekt am Stall! Klas­se!

Und am Nach­mit­tag stand Bau­de auf, zog los und grün­de­te ein In­ter­net­un­ter­neh­men, um die er­for­der­li­chen Mil­lio­nen zu schef­feln. In­zwi­schen aber hat er sei­ne Fir­ma ver­kloppt und ist in die USA aus­ge­wan­dert, um sich un­se­rem Zu­griff zu ent­zie­hen. Noch hat er elf Jah­re Zeit. Dann will ich den ers­ten Schnitt auf die Au­to­bahn knal­len! Dar­auf freue ich mich heu­te schon! Und ich las­se kei­ne Ge­le­gen­heit aus, Bau­de an sein Ver­spre­chen zu er­in­nern. Bis nach Wis­con­sin bin ich ihm ge­folgt, um ihn auf­zu­spü­ren!
Wenn es einst so­weit sein soll­te: Ich glau­be, ich wer­de die Au­to­bahn ver­mis­sen, trotz al­lem. Kei­ne Au­tos mehr, die bei Schnee­glät­te in un­se­ren Gar­ten rau­schen. Kei­ne Schein­wer­fer mehr, die über den wun­der­bar wei­ßen Kör­per der Liebs­ten hu­schen, wenn wir bei­ein­an­der lie­gen. Und kei­ne Ge­le­gen­heit mehr, ein lieb­ge­won­ne­nes Ri­tu­al aus­zu­füh­ren. Noch heu­te hal­te ich auf dem Heim­weg von Fe­ten im­mer auf der Brü­cke an, um in ho­hem Bo­gen von ihr her­un­ter zu pin­keln, stets dar­auf hof­fend, ein Ca­brio mö­ge drun­ter­her­fah­ren. Noch nie ha­be ich eins ge­trof­fen. Aber ich ha­be ja noch elf Jah­re Zeit...


Wei­te­re In­for­ma­tio­nen:
Den Text „Die Au­to­bahn“ hat der schles­wig-​hol­stei­ni­sche Bau­er Mat­thi­as Stühr­woldt über das Le­ben sei­ner Fa­mi­lie an der Au­to­bahn ge­schrie­ben. Wer auf ei­ne un­glaub­lich wit­zi­ge und ein­fühl­sa­me Wei­se er­fah­ren will, wie ein Bau­er lebt, denkt und fühlt, wie Fa­mi­lie und Hof, Le­ben und Ar­bei­ten, Dorf und Re­gi­on im All­tag zu­sam­men­ge­hö­ren, dem sei­en ganz nach­drück­lich sei­ne Kurz­ge­schich­ten, Be­trach­tun­gen und Ge­dich­te emp­foh­len:

Mat­thi­as Stühr­woldt, Ver­liebt Tre­cker fah­ren, 180 Sei­ten; 9,90 Eu­ro
Mat­thi­as Stühr­woldt, Der Woll­müt­zen­mann, 182 Sei­ten; 11,90 Eu­ro
Mat­thi­as Stühr­woldt li­ve, CD; 13,90 Eu­ro

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