Das so genannte Gutachten der Lüneburger Industrie- und Handelskammer
könnte das Gegenteil dessen bewirken, was diejenigen, die es in Auftrag
gaben und bezahlten, eigentlich wollten. Stellungnahme des Verkehrs-
und Wirtschaftsgeographen Prof. Peter Pez von der Leuphana-Universität
in Lüneburg.
Die Studie zeigt nicht bloß zwischen den Zeilen, sondern auch - dankenswerterweise - offen ausgesprochen gravierende, argumentative Schwächen auf. Die ganze Studie im Detail zu besprechen, würde lange dauern und viel Seitenraum in Anspruch nehmen. Dies nützt vermutlich niemandem nachdrücklich, sodass ich mich vorerst darauf beschränke, fünf wichtige Defizite zu benennen:
1) Lückenschluss
Das Argument "Lückenschluss" in der größten deutschen, von Autobahnen nicht erschlossenen Region durchzieht große Teile der Schrift textlich und abbildungstechnisch, gepaart mit der Klassifikation NO-Niedersachsens als dezentrale, periphere Region. Würde man den Maßstab verkleinern (was kartentechnisch eine Vergrößerung der Abbildungsfläche bedeutet), müsste man erkennen, dass ganz Deutschland von Autobahnen gut erschlossen ist und es zumindest in dieser Hinsicht keine wirklich dezentrale, periphere Region gibt. Andere Lageparameter können eine solche Klassifikation gleichwohl bedingen, bspw. für einige Regionen Ostdeutschlands, NO-Niedersachsen kann damit aber nicht verglichen werden und verdient eine bessere Notation. Außerdem wird es immer eine größte, noch nicht von Autobahnen erschlossene Region geben, solange nicht näherungsweise der gesamte Staatsraum asphaltiert ist, dies kann also für sich genommen kein Grund für einen Fernstraßenbau sein. Das Lückenschlussargument wird bezeichnenderweise sogar im dichtest erschlossenen Autobahnraum Deutschlands, im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, immer wieder für Forderungen nach Bau weiterer Trassen ins Feld gebracht. Über die Schrift verteilt wird deshalb mehr mit Stereotypen als mit wirklichen Argumenten hantiert.
2) Methodik (Kap. 1.3)
Schon der Abschnitt 6 auf S. 13 ist sehr erhellend formuliert: Den "wissenschaftlich mehr oder minder indifferenten multikausalen Wirkungszusammenhängen zwischen (über-)regionalen Straßenbauprojekten und ihrer ökonomischen Effekte[n]" folgt als Schlussfolgerung der Verzicht auf tiefergreifende quantitative Wirkungsanalysen - das ist das Gegenteil dessen, was man erwarten sollte. Man kennt offenbar die empirische Nicht-Belegung regionalökonomischer Effekte durch Fernstraßenbau, die es ja spätestens seit 1980 gibt, und zieht daraus den Schluss, sich methodisch auf ein qualitatives und damit völlig unzureichendes Paradigma zurückzuziehen. Das Gegenteil, also nun erst recht mehr methodischer Input, wäre angeraten gewesen, stattdessen bemüht man sich nicht einmal um Reisezeitanalysen, die doch per "desktop research" anzufertigen gewesen wären. Bloße Meinungen bzw. subjektiv empfundene Erfahrungen von Funktionsträger(inne)n können die fürwahr diffizile Materie jedenfalls absolut nicht erhellen.
3) Nutzen-Kosten-Verhältnis (Kap. 3.2)
Die Studie zeichnet die sukzessive Absenkung des NKV auf aktuell 1,9 nach, zieht daraus ein positives Fazit und meidet jegliche Problematisierung. So bleibt unbeachtet, dass die Errechnung des volkswirtschaftlichen Nutzens großenteils rein kalkulatorisch erfolgt. Berechnete Zeitersparnisse im täglichen Minutenbereich werden bspw. mit Lohnsätzen multipliziert, jedoch werden diese Zeitersparnisse gar nicht monetarisiert, weil man im Tagesbezug keiner weiteren vergüteten Tätigkeit nachgehen kann. Während also die Kosten monetär konkret anfallen, ist das beim Nutzen keineswegs der Fall und man darf keineswegs daraus schließen, dass bspw. für 10 investierte Euro 19 Euro als Nutzen entstehen. Deshalb wird gemeinhin auch ein NKV von 3,0 für eine Aufnahme in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans als Schwellenwert genutzt. Das NKV ist aus besagtem Grund gar nicht geeignet, um den Nutzen absolut-quantitativ zu beschreiben, sondern es ist nur ein Maßstab für die relative Wertigkeitsdifferenzierung verschiedener, konkurrierender Vorhaben zur Erstellung einer Rangfolge. Die vorgenommene Interpretation ist deshalb systematisch falsch.
4) "Praktische" Erfahrungen (Kap. 4.2)
In diesem Kapitel werden grundlegende argumentative Fehler gemacht. Die Autoren versuchen nicht einmal, zwischen Ursachen und Wirkungen klar zu differenzieren. Wenn bspw. Arbeitslosigkeit und Einwohnerrückgang in Autobahnnähe geringer ausfallen - bezeichnenderweise gibt es diese auch dort -, kann dies auch daran liegen, dass Autobahnen an Zentralen Orten vorbeiführen; das sollen sie schließlich auch, um eine Verbindungsfunktion wahrzunehmen. Die Zentralen Orte sind aber Kerne wirtschaftlichen Geschehens und Zentren von Bevölkerung.
Zeitreihenanalysen werden ebensowenig vorgenommen wie überhaupt quantitative Vergleiche - man hat ja schon bei der Methodik erklärt, Schlussfolgerungen aus Gesprächen zusammenzustellen. Im selben Sinne wird auch der Mikrostandorteffekt (Gewerbegebietseinrichtung an Fernstraßenzufahrten als Effekt der Flächennutzungsplanung und ihre Auffüllung insbesondere durch intraregionale Standortänderung bei Betriebsflächenvergrößerung) überhaupt nicht thematisiert.
5) Regionalökonomische Potenziale (Kern: Kap. 5.4)
Nach Anlage der Untersuchung überrascht es nicht, wenn Ausführungen zu den erwartbaren regionalökonomischen Effekten - also über die Darstellung des Ist-Zustandes hinaus - auffallend dünn bleiben. In der Tat gelangt die gesamte Schrift an verschiedenen Stellen nicht darüber hinaus aufzuzeigen, dass verschiedene positive ökonomische Effekte möglich wären. Das ist argumentativ durchaus korrekt, jedoch nur der erste Schritt einer üblichen volkswirtschaftlichen oder auch wirtschaftsgeographischen Betrachtung: das Aufzeigen möglicher Wirkungszusammenhänge. Entscheidend ist der empirische Beleg, dass diese Möglichkeiten auch wirklich eintreffen bzw. wie stark und verursacht durch Fernstraßenausbau das geschieht. Dies leistet die Studie, wie schon unter Pkt. 2 vermerkt, nicht und zieht sich damit auf den Wissenschaftsstand der 1970-er Jahre zurück.
6) Alternativenprüfung
Die Autoren ziehen als Vergleich einen vierspurigen Ausbau der B4 heran, aber das ist nicht die adäquate Vergleichsgrundlage, diese müsste auf die Alternative alternierender Überholstreifen (2+1-System) mit Ortsumfahrungen gerichtet sein, welche u. a. gerade nicht jene Verkehrsmenge neu in die Region ziehen dürfte, wie dies ein Autobahnbau oder eine durchgehend vierspurige Bundesstraße tut. Dass auch die Flächennutzungskonflikte oder Baukosten dann viel geringer sowie die Entlastungen der Ortsinnenverkehre viel größer ausfallen als bei einer A39 findet so keine Beachtung.
Wie oben gesagt, ließe sich noch viel mehr zum IHK-Gutachten schreiben; ich möchte an dieser Stelle abbrechen, indem ich das formuliere, wozu die Studie durchaus effektiv beiträgt: Sie dokumentiert die Schwäche der Argumentation derjenigen, die den Bau der A39 (oder auch manch anderer Autobahn) fordern. Quelle: Prof. Pez für die BI Hohnstorf